Sex, Internet, Zensur und Markenzeichen


Sex, Internet, Zensur und Markenzeichen
Armin Medosch 17.10.2000

Drei vordergründig unverbundene Ereignisse in jüngerer Vergangenheit veranschaulichen den “Fortschritt” der Konsumgesellschaft auf dem Gebiet des Cybersex

Mouchette ist 12 Jahre alt, aus Amsterdam und macht Netzkunst. Der Name bedeutet auf französisch “kleine Fliege” und diese ist auch ihr Markenzeichen. Wer auf ihrer Site mehr sehen will, muss mit der Maus die herumschwirrende Fliege einfangen und rechtzeitig klicken. Auf anderen Pages wandern viele kleine Fliegen über die Textabsätze. Manchmal verschwindet die Fliege auch und es erscheint ein Button mit der Aufschrift “It’s me”. Mouchette verstreut ihr virtuelles Ich über HTML-Forms und Javascriptcode. Die relativ einfache aber verspielt witzige und auch kokette Site hat viele Fans, die sie verlinkt haben.

Aber einige ihrer “Fans” haben mehr getan, als die Site bloß zu verlinken. Sie benutzen den Namen ebenso wie die Fliege und den Programmierstil in einem eindeutig pornographischem Kontext, ja, man kann es laut sagen, in einem üblem und verabscheungswürdigem pornographischem Kontext. Das virtuelle Image Mouchettes wird ausgenutzt, man könnte sogar sagen vergewaltigt. Dagegen geht Mouchette nun vor. Die Agentur Drivedrive.com hat sich der Sache angenommen und Markenschutz für Mouchette beantragt, um gegen die pornographischen Urheberrechtsdiebe ein rechtliches Mittel in der Hand zu haben.

Zwischenfall im “Dollspace”

Im römischen Bürgernetz ereignete sich vor kurzem ein Zensurfall. Den Hintergrund bilden zwei Fälle von sexueller Kindesmisshandlung und Mord. In der darauffolgenden Welle von Medien-Hysterie hielten es Beamte der Stadt Rom offenbar für nötig, im von der Stadt gesponserten Bürgernetz, ein nichtkommerzieller Provider für Vereine und Kulturproduzenten, für Ordnung zu sorgen. Jegliche Inhalte sollten beseitigt werden, die Anstoß erregen könnten. Die surfenden Hüter der Moral stießen auf ein Interview mit der australischen Künstlerin italienischer Abstammung, Francesca da Rimini. Sie war Mitglied der cyberfeministischen Gruppe VNS Matrix, hat inzwischen ein Buch geschrieben und vor vier Jahren eine Webkunstarbeit namens “Dollspace” gemacht.

Den Verwaltern des Bürgernetzes missfiel ein Interview, das der New Yorker Ricardo Domingeuz mit ihr geführt hatte. Präziser gesprochen waren es zwei kleine Gif-Animationen, die als schädlich für die öffentliche Moral gewertet wurden. Sie beruhen auf mehr als 200 Jahre alten Zeichnungen, die 1789 auf einer holländischen Presse gedruckt worden waren. Hätte da Rimini diese gedruckten und oft nachgedruckten Bilder einfach nur als statische Gifs verwendet, hätte eigentlich niemand etwas dagegen sagen können. Doch sie hat die Zeichnungen zerschnitten, über- und ineinandergeblendet und so als animiertes Gif eingesetzt. Ein Wesen, halb Mensch, halb Leopard, scheint mit einem riesigen Phallus eine Frau zu penetrieren.

Der Webmaster des Bürgernetzes hat auf Anweisung des Magistrats der Stadt Rom nicht einfach nur die beiden Gif-Animationen entfernt, sondern gleich das gesamte Interview. Die Betreiber wurden zunächst gar nicht informiert. Erst als sie das Fehlen der Seiten bemerkten und sich an die Behörden wandten, erhielten sie ein Schreiben mit folgender Begründung:

“The city administration holds that what has been placed online is damaging and could be considered offensive for reasons of shamefulness, the communal morals and good social behaviour.”

Als Protest haben die Betreiber von The Thing Rom, der Server im Bürgernetz, der da Riminis Arbeiten gehostet hat, das Buch “Lasciate che i Bimbi”. (Lasst die Kinder …) des anonymen Kommunikationsguerrilla Luther Blisset ins Netz gestellt. Schnell wurde auch dieses von der Verwaltung zensiert, d.h. komplett entfernt. The Thing Rom und andere aus der italienischen Internet-Gegenöffentlichkeit haben versucht, diese Eingriffe als “Zensur-Skandal” anzuprangern und international um Sympathie zu werben.

Aber so einfach stellen sich die Dinge auch wieder nicht dar. DaRimini selbst hat offenbar keine Lust, zwischen die Mühlen dieses Skandals zu geraten und ist aus Rom abgereist, zu einer Vortragstour in Europa. Als Künstlerin hat sie ihre Aussage bereits mit ihrer Arbeit “Dollspace” gemacht. Deren Hauptfigur, DollYoko, ist eine Mischung aus Kinderpuppe, Hexe und Cyborg. Sie kommt aus dem “schlammigen Krater im Teich der toten Mädchen” heißt es im “Dollspace” und ist eine “Versuchung deiner sexuellen Fantasie”. “Alle Frauen sind Geister und sollten daher gefürchtet werden”, steht einige Mausklicks weiter zu lesen.

Kurz und sicherlich verkürzend gesprochen, ließe sich der Kern der Arbeit so zusammenfassen: Die Künstlerin nimmt die Rolle des Opfers ein und invertiert diese, so dass DollYoko als geisterhafte “Puppet Mistress” auf die Welt zurückkehrt, um die Täter zu verfolgen. Geschrieben in einfachem HTML, erinnert die Arbeit vor allem daran, welche Macht Bilder ausüben können. Dollspace ist ganz sicher kein kinderpornographisches Werk. Aber als eine komplexe Auseinandersetzung mit diesem und anderen Themen im Spannungsfeld zwischen Sexualität und Gewalt aus einer radikalen, cyberfeministischen Position, geht Dollspace an die Grenzen dessen, was zum Thema Sexualität sagbar ist. Für die meist männlichen und in einer katholischen Tradition verhafteten Hüter der Moral in Italien ist diese Grenze bereits mit zwei Gif-Animationen als Auszug aus der gesamten Arbeit überschritten.

Das ist bedauerlich, aber keineswegs überraschend. Das eindimensionale Medienklima der berechtigten moralischen Entrüstung in Italien läßt keine vielschichtige Diskussion zu und scheint allein darauf ausgerichtet zu sein, Hass zu erzeugen. Dass damit zugleich Auflagen gesteigert werden, ist auch nur zu durchsichtig. Gleichzeitig werden dissidente Stimmen mit dem Machtmittel Zensur in den Untergrund verdrängt und eine wirkliche Auseinandersetzung wieder einmal abgewürgt. Die Affäre hat einen stark lokalen Aspekt, aber es ist auch bekannt, wie das Thema Kindesmisshandlung und Kinderpornographie international missbraucht wird, um eine stärkere staatliche Kontrolle des Cyberspace durchzusetzen.

Die Normalität der Perversion
Am vergangenen Samstag wurde auf dem britischen Sender Channel4 eine sechsteilige Serie von halbstündigen Beiträgen zum Thema Cybersex gestartet. Das Fernsehen verkauft Cybersex wieder einmal als ein “neues” Phänomen. Dabei müssen all die Versatzstücke herhalten, die schon allzu bekannt sind – die Cybersex-Gimmicks und -Gadgets aus den achtziger und neunziger Jahren: Masturbationsmaschinen, Gummianzüge mit elektronisch getriggerten Vibratoren, “lebensechte” Sexpuppen und Sexroboter. Kaum erwähnenswert, dass es sich vor allem um Sex-Gadgets für Männer handelt. Ausgelassen und erspart wurde einem nichts, abgesehen von einigen mit Mosaik oder absichtlich erzeugter Unschärfe überdeckten Genitalien. Das Ganze war ungefähr so erotisch anzusehen wie ein Gebrauchtwagen in der Autowäsche.Den einzigen Denkanstoß vermittelte in diesem Programm die Einleitung. Praktiken, die von der Mehrheit jetzt vielleicht noch als pervers betrachtet und nur von verschiedenen Minderheiten, Randgruppen oder Subkulturen betrieben werden, sagte der Präsentator, würden schon in naher Zukunft Teil des allgemein akzeptierten Sex-Mainstreams seins. Damit könnte er recht behalten. Das heißt nicht, dass, so wie etwa Paul Virilio vor einiger Zeit geschrieben hat, Cybersex den natürlichen Sex ablösen würde. Es würde mich wundern, wenn Gadgets wie die, die in der Sendung vorgestellt wurden, tatsächlich Massenverbreitung finden würden.

Worauf der Channel4-Beitrag vor allem verweist, ist der unaufhaltsame Trend zur Verdinglichung von Sex, zur Verwandlung von Sex in Warenform. Dieser Trend geht in zwei Richtungen. Einerseits gibt es immer mehr Produkte, Varianten von Sex-Spielzeugen, Pornographie und Dienstleistungen, die der sexuellen Stimulanz und Befriedigung dienen sollen. Diese Art von Sex-Industrie, früher die Domäne “schmutziger alter Männer” in grauen Regenmänteln, erfährt immer größere gesellschaftliche Akzeptanz. Auch jüngere Männer und Frauen konsumieren sie, ohne Scham und die Gefahr gesellschaftlicher Stigmatisierung als Außenseiter oder Perverse. Da Sexualität nie endgültig befriedigt werden kann, sondern die zwischenzeitliche Befriedigung nur neue Nachfrage erzeugt, ist das ein idealer Markt, Sex das ideale Produkt.

Andererseits ist Sex der verkaufsfördernder Faktor Nummer 1, der in der Werbung unaufhörlich eingesetzt wird, um den Wunsch nach Konsumgütern zu erwecken. Ganz “normale” Waren werden mit Sex aufgeladen und zu “Konsum-Fetischen”. Die erfolgreichsten Waren-Fetische finden sich heute im Bereich der neuen Kommunikationstechnologien: das WAP-Handy, Palmtops, Notebooks, MP3-Player usw., sind Signifikanten sexueller Macht und zugleich Steuerungselemente für die Organisation sexueller Bedürfnisse und Konsumvorgänge. Falls “Cybersex” wirklich den realen Sex ersetzt, dann eher in der Form von und vermittelt durch diese Fetisch-Waren, als durch die lächerlichen Gummi-Noppen-Anzüge-mit-Elektroden der achtziger Jahre.

Mit unserer Präferenz für diese Art von Konsumgütern verlagert sich Sex zunehmend in einen Kommunikations- und Informationsraum, eine Sphäre, die man metaphorisch nach wie vor “Cyberspace” nennen könnte und die sich überlagert mit aber nicht deckungsgleich mit dem Internet ist. Es ist eine Welt der flottierenden Zeichen, die eine von der Welt der realen Körper abgetrennte und nicht kontrollierbare Realität bilden. In dieser Welt der virtuellen Identitäten und Images ist es daher nur logisch, dass jemand wie Mouchette ihren Namen als Markenzeichen schützen musste. Inhaberin eines Domainnamens zu sein, ist nicht genug. In dem Maße, wie sich Sex als bevorzugte Ware durchgesetzt hat, ist das kapitalistische “Markenzeichen” die letzte Schutzposition. Mouchette ist damit Vorläuferin einer neuen Bewegung, die zur Folge haben wird, dass wir alle – und nicht nur Leute wie Madonna – unsere virtuellen Identitäten als Domainnamen und Markenzeichen eintragen werden müssen, um uns vor sexuellem Missbrauch im “Cyberspace” zu schützen.

Zensur, so wie in Italien, aus religiösen und ordnungshüterischen Gründen, ist eher wie ein Nachhall aus der Vergangenheit. Sex als Ware und Waren als ultimative Sex-Fetische werfen hingegen ein anderes und weitreichenderes Problem auf. Während wir die Ausdehnung der Warenform auf die Sexualität grundsätzlich längst akzeptiert haben, sind es bestimmte Formen von Pornographie und reale sexuelle Misshandlungen, die wir nicht und nie akzeptieren würden. Aber mit dem “Fortschritt” der Konsumgesellschaft wird auch die Verdinglichung der Sexualität zunehmen ebenso wie die Objektivierung der Körper. Pornographie und sexuelle Gewalt sind in der bürokratischen Marktwirtschaft nicht einfach Auswüchse einzelner “Perverser”, sondern die dunkle Seite der allgemeinen Perversion. Zensur oder mehr staatliche Kontrolle über das Netz werden das nicht stoppen können, sondern nur eine Veränderung des Systems insgesamt.

 



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